Zur Tapisserie „1000 Jahre Hilden – Wege durch die Zeit“
„Kreation, beziehungsweise Reflexion, stellen keine „Kopie der Welt“ dar, sondern vielmehr die tatsächliche Schaffung einer Welt, die der ersten ähnlich ist, doch nicht, weil sie sie abbildet, sondern weil sie sie erklärt.“
(Roland Barthes, 1964)
Geschichte ist die Kunde vom vergangenen und gegenwärtigen Geschehen im menschlichen Bereich und in der Natur. Die Geschichtswissenschaft hat ihre eigenen Methoden, Sprache und Denkweisen entwickelt. Sie hat ihre Untersuchungsaspekte festgelegt und mit anderen Wissenschaften verknüpft, um nicht nur zu beschreiben, sondern auch im Zusammenhang Ursache, Verläufe, Entwicklungen und Wirkungen zu erforschen.
Wenn sie Fakten deutet, Sinngehalte erhellt, wird Geschichte Interpretation, die beeinflusst ist von kulturellgeistigen Konditionierungen, Erkenntniswillen und Zielvorstellungen.
Ihr wesentliches vermittelndes Medium ist die Sprache.
Kunst ist ein Erkenntnismedium mit ikonischer Grundstruktur, das sich über die visuelle Wahrnehmung erschließt. Aber es gibt keine entsprechende Bildwissenschaft zur Sprachwissenschaft, obwohl die Menschen sich seit Jahrtausenden verständigen über Zeichen und Bilder in Stein und Holz gekratzt, mit Farben ausgefüllt, durch Strukturen unterschieden. Anders als die Geschichtswissenschaft ist die Kunst nicht interessiert an Ursachen, Verläufen, Entwicklungen, also am Faktor Zeit. Sie ist als Wahrnehmungsobjekt festgelegt auf Raum, in dem sie sich darstellt, und zeitlose Gegenwärtigkeit, aus der heraus sie ihre offenen ikonischen Deutungen anbietet.
Wie hat sich nun Katharina Gun Oehlert zu der Unvereinbarkeit der beiden im Titel angesprochenen Positionen verhalten? Da sie Künstlerin ist, lag es auf der Hand, dass sie wie selbstverständlich die geschichtlichen Elemente, die sie auf dem Erkundungsweg durch die Geschichte von Hilden fand, ihres historischen Stellenwertes entkleidete und sie zu autonomen Bildmotiven umwandelte, ihre Abfolge und Zuordnung nicht im wissenschaftlichen Kontext, sondern in den ikonischen Zusammenhang des übergeordneten Bildganzen einordnete.
Diese bildnerische Freiheit, historische Urkunden so zu behandeln, ohne ihre „Lesbarkeit“ zu zerstören, konnte nur gelingen, wenn sie Teil eines großen Gleichnisses für die unbegreifliche Natur, den anschaulichen, offenen „Boden“, auf dem sich Geschichte abspielte, wurden. Und so erdachte sie zunächst über die ganze Fläche hinweg einen farbigen Bildraum in warmen Erdfarben, strukturiert durch Schollen, Brüche, Risse, unterbrochen vom leuchtenden Blau verlaufender Gewässer. Links, aus der Tiefe unbekannter Zeiten, entwickelt sich die Oberfläche der Erde aus einer hellen „Nichtfarbigkeit“, in der das Sonnensymbol Leben und Anfang bedeutet. Rechts endet der Bildraum in ähnlicher blassheller Farbigkeit, Zukunft als das Unbekannte, Undefinierte. Die größten Kontraste der Farben, ihre Steigerung der Leuchtkraft, des dramatischen Hell-Dunkels, legte sie in die mittleren Felder der Tapisserie, dahin, wo sich das Wissen um die Geschichte am deutlichsten und reichsten darstellen wird.
Die gewebte „Haut“ dieses Bildraumes, die Gleichnis für den Boden ist, auf dem die abstrakten Zeichen der Hildener Geschichte aufgebracht wurden, ist stofflich-sinnlich und von großer haptischer Qualität. Durch die besondere Webtechnik, die Katharina Gun Oehlert erfand, erhält der Webgrund hautige Weichheit und Wärme, konkrete, fühlbare Faltungen, Kräuselungen und Stauchungen, die das Licht brechen und Schatten werfen und die Farben zum Schwingen bringen.
Damit gewann Oehlert für das Bildwerk eine Dimension stofflich-realer Präsenz, eine Lebendigkeit und ein Eigenleben der gestalteten Fläche, die für immer neue Deutungen offensteht. Auf diesem Boden kann sich vieles ereignen, können immer wieder Spuren gefunden werden und neu entstehen. Er ist nicht statisch, sondern schmiegt sich von einem Teil der Tapisserie zum anderen bewegt und dynamisch an das bildnerische Geschehen an.
Über diesen Bildgrund, sich in ihn einfügend, ihn akzentuierend, ihn überschneidend, verteilte die Künstlerin dann eine Fülle von Abbildungen historischer Skizzen, Grundrisse, Register, Briefe, Siegel, Urkunden, Medaillen, Portraits, Werkzeuge, Maschinenteile etc. aus dem Archiv der Stadt Hilden. Diese zweite, abstrakte Dimension rational erfassbarer Zeichen und Inhalte reduziert Geschichte auf eine punktuelle Präsenz, die den Grund dieses Bildwerkes aber nicht dominiert.
Und eine dritte Dimension begründet die Spannung und den bildnerischen Reichtum dieser Tapisserie. Es gibt ein visuelles Leitmotiv, das gegen den Titel und die Fakten der Geschichte wirkt, eine eigenwillige Entscheidung der Künstlerin. Die Wucht der Komposition des großflächigen Werkes zeigt eindeutig an, dass Katharina Gun Oehlert nicht die abstrakte Geschichte als das bedeutendste Element ansieht. Wo die Fakten verschwimmen, wird Raum für die Imagination frei.
Wieviel fantastische Gestalten verbergen sich in den Konturen, Schattierungen, Bewegungen des Farbgrundes. Fast jede Flächenkontur lässt das Entstehen von neuen Formen ahnen. Wie dominierend stellen sich Vogel, Fisch, Muschel, Mond dar. Wie drohend steht der Eisenschuh, wie poetisch die märchenhafte Gestalt des Jungen mit dem gekrönten Pferdekopf in der Fläche.
Der blaue Vogel, aufsteigend aus dem schrecklichen Absturz der dunklen Geschichte dieses Jahrhunderts und fortstürmend in die Zukunft, ist bedeutsamer als die Zeichen der industriellen Entwicklung und die Ornamente der neuen Straßen und Autobahnen.
Und das verzauberte Liebespaar im Feld der Kinderwünsche, unter dem Symbol utopischer Kreativität, in dem halb Technik, halb Natur miteinander verschmelzen, steht für den trotzigen Glauben an eine menschlichere Zukunft.
Alle Gestalten sind formverwandt, wie herausgelöste Teile aus dem Grund, sich verwandelnd in Elemente dieser anderen Dimension, eine der Emotionen, der Imagination, der Träume, der magischen Bezüge, der mythischen Erinnerungen und ihrer Urbilder.
Sie alle sind im Kontext des ikonischen Motiv- und Formenkanons bedeutsamer, ausdrucksstärker als die historischen Bildmotive.
Setzen wir die drei bildnerischen Dimensionen der Tapisserie wieder in Beziehung zueinander, enthält dieses Werk der Katharina Gun Oehlert ein Bekenntnis:
Die erste Dimension der gewaltigen, stofflich-realen Präsenz der Bildfläche ist Gleichnis für Erde, Natur, Schöpfungsgrund, für den Boden, auf dem sich Geschichte abspielt.
Die zweite Dimension der abstrakt-rationalen Zeichen ist Gleichnis für die Präsenz des Menschen in Zeit und Raum, abzulesen an den Spuren, die er hinterlässt als Zeugnisse seines Denkens, Arbeitens, Ordnens, seines Macht- und Gestaltungswillens.
Die dritte Dimension der großen Gestalterfindungen ist Gleichnis für den geistig-seelischen Bereich der uralten Empfindungs- und Vorstellungsinhalte, dem Grund näher verwandt als der konkreten Geschichte.
Das bedeutet, „die tausendjährige Stadt Hilden“ wird hier zum Gleichnis für Leben auf dieser Erde, gesetzt mit der Warnung, nichts zu leugnen oder gar zu zerstören, was seinen Reichtum ausmacht.
Und so gewinnt die Künstlerin für dieses Werk diese zeitlose Gegenwärtigkeit, die über die geschichtliche Beschränktheit hinausweist, „indem es etwas zu verstehen gibt, was so noch nicht verstanden worden ist“.
(nach H. G. Gadamer)
Rosmarie Kesselheim, 2003